Kälbermarsch von Bertolt Brecht

Bertolt Brecht – Der Kälbermarsch

Das satirische Lied Kälbermarsch hat der Schriftsteller Bertolt Brecht im September 1933 im französischen Exil geschrieben. Später wurde es in seinem Stück Schweyk im Zweiten Weltkrieg, das Brecht zwischen 1941-1944 verfasste, übernommen. Es ist eine bittere Parodie des Horst-Wessel-Liedes. Dieses war anfangs ein Kampflied der SA und wurde dann die Parteihymne der NSDAP. Mit dem Kälbermarsch prangerte Brecht den bedingungslosen Gehorsam der deutschen Soldaten im Nationalsozialismus an. Die Soldaten werden als Kälber bezeichnet, die sich als identitätslose Gruppe der Eigenverantwortung entziehen und ohne die Diktatur zu hinterfragen in den Tod gehen. Es ist anzunehmen, dass Brecht den Kälbermarsch für antifaschistische Radiosendungen geschrieben hat.

DER KÄLBERMARSCH

Hinter der Trommel her
Trotten die Kälber                                 
Das Fell für die Trommel                          
Liefern sie selber.
Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen     
Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt.         
Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
Marschiern im Geist in seinen Reihen mit.         

Sie heben die Hände hoch                        
Sie zeigen sie her.                                
Die Hände sind blutbefleckt                      
Doch immer noch leer.                           
Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen   
Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt.       
Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen.
Marschiern im Geist in seinen Reihen mit.

Sie tragen ein Kreuz voran
Auf blutroten Flaggen
Das hat für den armen Mann
Einen großen Haken.
Der Schlächter ruft: Die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert. In ruhig festem Tritt.
Die Kälber, deren Blut im Schlachthaus schon geflossen
Marschiern im Geist in seinen Reihen mit.

Höcke, Künast, Meinungsfreiheit: Simone Solga rastet aus! | SWR Spätschicht

Simone Solga beweist: Tief in einer scharfzüngigen Kabarettistin kann auch eine zarte Seele schlummern – oder? In einer Zeit, in der persönliche Beleidigungen gegen Renate Künast gerichtlich als legitime Kritik eingestuft werden, setzt Solga sich jetzt für mehr Freundlichkeit ein – ob auf der Bühne oder im heimischen Treppenhaus.

Kurt Tucholsky | Frage

Frage

Es laufen vor Premieren
Gerüchte durch die Stadt:
Nun kommt, was man in Sphären
noch nicht gesehen hat.
   Doch hat der Rummel sich gelegt
   – so aufgeregt, so aufgeregt –
   dann frag ich still, so leis ich kann:
      »Und dazu ziehn Sie ’n Smoking an –?«

Es steigen große Bälle,
und die Plakate schrein.
Man muß auf alle Fälle
da reingetreten sein.
   Der Sekt ist warm, die Garderobe kalt.
   »Ich glaube, Lo, nun gehn wir bald …«
   Zu Hause sehn sich alle an:
      »Und dazu ziehn wir ’n Smoking an –?«

Es prangt in den Journalen
das Bildnis einer Frau.
Schön ist sie angemalen,
hellrosa, beige und blau.
   Dir glückts… ihr Widerstand erschlafft…
   Na, fabelhaft! Na, fabelhaft?
   Grau ist der Morgen … welk der Strauß ..
      Und dazu zieh ich ’n Smoking aus –?

Willst du nach oben schweben,
fällst du auf den Popo.
Und überhaupt das Leben,
es ist gemeinhin so:
   Erst viel Geschrei und mächtiger Zimt.
   Sieh nur, wie alles Karten nimmt!
   Aber mehrstenteils, o Smokingmann:
      Zieh ihn gar nicht erst an! Zieh ihn gar nicht erst an –!

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kurt Tucholsky | An das Publikum

An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
   Sag mal, verehrtes Publikum:
   bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung dröhn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…
   Sag mal, verehrtes Publikum:
   bist du wirklich so dumm?

Ja, dann…
   Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann …
   Ja, dann verdienst Dus nicht besser.

1931

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kurt Tucholsky | 20 Gedichte [20]

Stationen

Erst gehst du umher und suchst an der Frau 
das, was man anfassen kann. 
Wollknäul, Spielzeug und Kätzchen-Miau – 
du bist noch kein richtiger Mann. 
        Du willst eine lustig bewegte Ruh: 
        sie soll anders sein, aber sonst wie du … 
                Dein Herz sagt: 
                Max und Moritz!

Das verwächst du. Dann langts nicht mit dem Verstand. 
Die Karriere! Es ist Zeit …! 
Eine kluge Frau nimmt dich an die Hand 
in tyrannischer Mütterlichkeit. 
        Sie paßt auf dich auf. Sie wartet zu Haus. 
        Du weinst dich an ihren Brüsten aus … 
                Dein Herz sagt: 
                Mutter.

Das verwächst du. Nun bist du ein reifer Mann. 
Dir wird etwas sanft im Gemüt. 
Du möchtest, daß im Bett nebenan 
eine fremde Jugend glüht. 
        Dumm kann sie sein. Du willst: junges Tier, 
        ein Reh, eine Wilde, ein Elixier. 
                Dein Herz sagt: 
                Erde.

Und dann bist du alt. 
                                Und ist es soweit, 
daß ihr an der Verdauung leidet –: 
dann sitzt ihr auf einem Bänkchen zu zweit, 
als Philemon und Baucis verkleidet. 
        Sie sagt nichts. Du sagst nichts. Denn ihr wißt, 
        wie es im menschlichen Leben ist … 
                Dein Herz, das so viele Frauen besang, 
                dein Herz sagt: »Na, Alte …?« 
                                Dein Herz sagt: Dank.

1930

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kurt Tucholsky | 20 Gedichte [19]

Danach

Es wird nach einem happy end 
im Film gewöhnlich abjeblendt. 
        Man sieht bloß noch in ihre Lippen 
        den Helden seinen Schnurrbart stippen – 
        da hat sie nu den Schentelmen. 
                Na, un denn –?

Denn jehn die beeden brav ins Bett. 
Na ja … diss is ja auch janz nett. 
        A manchmal möcht man doch jern wissn: 
        Wat tun se, wenn se sich nich kissn? 
        Die könn ja doch nich imma penn…! 
                Na, un denn –?

Denn säuselt im Kamin der Wind. 
Denn kricht det junge Paar n Kind. 
        Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba. 
        Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba. 
        Denn wolln sich beede jänzlich trenn… 
                Na, un denn –?

Denn is det Kind nicht uffn Damm. 
Denn bleihm die beeden doch zesamm. 
        Denn quäln se sich noch manche Jahre. 
        Er will noch wat mit blonde Haare: 
        vorn doof und hinten minorenn… 
                Na, un denn –?

Denn sind se alt. 
                                Der Sohn haut ab. 
Der Olle macht nu ooch bald schlapp. 
        Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit – 
        Ach, Menschenskind, wie liecht det weit! 
        Wie der noch scharf uff Muttern war, 
        det is schon beinah nich mehr wahr! 
        Der olle Mann denkt so zurück: 
        Wat hat er nu von seinen Jlück? 
        Die Ehe war zum jrößten Teile 
        vabrühte Milch un Langeweile. 
Und darum wird beim happy end 
im Film jewöhnlich abjeblendt.

1930

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kurt Tucholsky | 20 Gedichte [18]

An die Berlinerin

Mädchen, kein Casanova 
hätte dir je imponiert. 
Glaubst du vielleicht, was ein doofer 
Schwärmer von dir phantasiert? 
Sänge mit wogenden Nüstern 
Romeo, liebesbesiegt, 
würdest du leise flüstern: 
»Woll mit die Pauke jepiekt –?« 
Willst du romantische Feste, 
gehst du beis Kino hin … 
         Du bist doch Mutterns Beste, 
         du, die Berlinerin –!

Venus der Spree – wie so fleißig 
liebst du, wie pünktlich dabei! 
Zieren bis zwölf Uhr dreißig, 
küssen bis nachts um zwei. 
Alles erledigst du fachlich, 
bleibst noch im Liebesschwur 
ordentlich, sauber und sachlich: 
Lebende Registratur! 
Wie dich sein Arm auch preßte: 
gibst dich nur her und nicht hin. 
         Bist ja doch Mutterns Beste, 
         du, die Berlinerin –!

Wochentags führst du ja gerne 
Nadel und Lineal. 
Sonntags leuchten die Sterne 
preußisch-sentimental. 
Denkst du der Maulwurfstola, 
die dir dein Freund spendiert? 
Leuchtendes Vorbild der Pola! 
Wackle wie sie geziert. 
Älter wirst du. Die Reste 
gehn mit den Jahren dahin. 
Laß die mondäne Geste! 
         Bist ja doch Mutterns Beste, 
         du süße Berlinerin –!

1922

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kurt Tucholsky | 20 Gedichte [17]

Psychoanalyse

Drei Irre gingen in den Garten 
und wollten auf die Antwort warten.

Der erste Irre sprach: 
                »O Freud! 
Hat dich noch niemals nicht gereut, 
daß du Schüler hast? Und was für welche –? 
Sie gehen an keinem vorüber, die Kelche. 
Ich kenne ja wirklich allerhand 
als Mitglied vom Deutschen Reichsirrenverband – 
aber die alten Doktoren sind mir beinah lieber 
als das Getue dieser 
                                                  Ja.«

Der zweite Irre sprach: 
                              »Schmecks. 
Ich habe hinten einen Komplex. 
Den hab ich nicht richtig abreagiert, 
jetzt ist mir die Unterhose fixiert. 
Und ich verspüre mit großer Beklemmung 
rechts eine Hemmung und links eine Hemmung. 
Vorn hängt meine ältere Schwester und 
in der Mitte bin ich ziemlich gesund. 
                                                  Ja.«

Der dritte Irre sprach: 
                              »Wenn 
heut einer mal muß, dann sagt ers nicht, denn 
er umwickelt sich mit düstern Neurosen, 
mit Analfunktionen und Stumpfdiagnosen –« 
(»Ha! – Stumpf!« riefen die beiden andern Irren, 
konnten den dritten aber nicht verwirren. 
Der fuhr fort:) 
»Vorlust, Nachlust und nächtliches Zaudern – 
es macht soviel Spaß, darüber zu plaudern! 
Die Fachdebatte – welch ein Genuß! – 
ist beinah so schön wie ein 
                                                  Ja.«

Die drei Irren sangen nun im Verein: 
»Wir wollen keine Freudisten sein! 
Die jungen Leute, die davon kohlen, 
denen sollte man kräftig das Fell versohlen. 
Erreichen sie jemals das Genie? 
                              O na nie –!

Jeder Jüngling von etwas guten Manieren 
geht heute mal Muttern deflorieren. 
Jede Frau, die in die Epoche paßt, 
hat schon mal ihren Vater gehaßt, 
Und die ganze Geschichte stammt aus Wien, 
und darum ist sie besonders schien –!

Wir drei Irre sehen, wie Liebespaare 
sich gegenseitig die schönsten Haare 
spalten – und rufen jetzt rund und nett: 
Rein ins Bett oder raus aus dem Bett!

Keine Tischkante ohne Symbol und kein Loch … 
Wie lange noch –? Wie lange noch –?«

Drei Irre standen in dem Garten 
und täten auf die Antwort warten.

1925

Kurt Tucholsky (1890-1935)

Kurt Tucholsky | 20 Gedichte [16]

Wider die Liebe

Die brave Hausfrau liest im Blättchen 
von Lastern selten dustrer Art, 
vom Marktpreis fleißiger Erzkokettchen, 
vom Lustgreis auch mit Fußsackbart.

Mein Gott, denkt sich die junge Gattin, 
mein Gott! Welch ein Spektakulum! 
»Das schlanke Frauenzimmer hat ihn …« 
Ja was? Sie bringt sich reinweg um.

O Frau! Die Phantasie hat Grenzen, 
sie ist so eng – es gibt nicht viel. 
Nach wenigen Touren, wenigen Tänzen 
ists stets das alte, gleiche Spiel.

Der liebt die Knaben. Dieser Ziegen. 
Die will die Männer laut und fett. 
Die mag bei Seeoffizieren liegen. 
Und der geht nur mit sich ins Bett.

Hausbacken schminkt sich selbst das Laster. 
Sieh hin – und Illusionen fliehn. 
Es gründen noch die Päderaster 
»Verein für Unzucht, Sitz Berlin«.

Was kann der Mensch denn mit sich machen! 
Wie er sich anstellt und verrenkt: 
Was Neues kann er nicht entfachen. 
Es sind doch stets dieselben Sachen … 
                        Geschenkt! Geschenkt!

1920

Kurt Tucholsky (1890-1935)