Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Erinnerungen eines Tierfreundes

Erinnerungen eines Tierfreundes

Meine ersten Erinnerungen knüpfen sich an einen Sperling. Ich kniee als kleiner Bube in unsrer ebenerdigen Wohnstube auf einem Stuhl, dessen Lehne der Fensterbank zugekehrt ist, und blicke, den blonden Krauskopf in die Linke gestützt, gelangweilt auf die Straße hinaus. Hier plätschert der Regen auf die blanken Pflastersteine hernieder und heult der Wind in bald schwellenden, bald abnehmenden Accorden an den Häusern entlang. Die lärmenden Spiele froher Kinder sind draußen verstummt; die Straße liegt leer und einsam, nur hin und wieder arbeitet sich ein tief herabgezogener, gegen den Wind gestemmter Regenschirm vorüber, unter dem entweder zwei Stiefel mit einem Stückchen Hose oder der Saum eines Frauenkleides sichtbar werden. Ich starre und starre wie in eine fürchterliche Oede. Da wird plötzlich von einer Dachrinne oder sonst woher ein Spatz durch die Gewalt des Windes auf das Pflaster verschlagen. Wie betäubt bleibt er einige Sekunden regungslos auf den roten Granitsteinen hocken. Meine Augen – ich fühle es – treten dick aus dem Kopfe hervor, sie verschlingen den Sperling. Wie? wenn er nicht fliegen könnte? Hatte ich damals schon meinen Schiller gekannt, ich würde mit Begeisterung deklamiert haben:

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Junge Düppelstürmer

Junge Düppelstürmer

Das war eine Geschichtsstunde gewesen! Professor Weber hatte seinen Quartanern die Eroberung der Düppeler Schanzen erzählt, so anschaulich, so lebhaft, so begeistert, wie er noch nie gesprochen, und das kam daher, weil er am 18. April 1864 in eigener Person »mit dabei gewesen war«, als Reserveleutnant im westfälischen Infanterieregiment Nr. 53. Er hatte zur Sturmkolonne gehört, welcher speziell die Schanze Nr. 4, der Schlüssel der aus zehn furchtbaren Schanzen bestehenden dänischen Düppelstellung, zugewiesen war.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Harald der Lange

Harald der Lange

Wer vor zwanzig Jahren das Gymnasium zu Dingsda besuchte, kannte unbedingt jenen baumlangen Primaner, welcher den der nordischen Geschichte entlehnten Spitznamen »Harald der Lange« führte. Ueber sechs Fuß lang, überragte unser Harald nicht allein seine sämtlichen Lehrer, sondern auch alle Bewohner von Dingsda: es war »der größte Mann« der Stadt – freilich nur an Körpermaß, nicht an Kenntnissen und geistiger Bedeutung. Im Gegenteil, da haperte es etwas im Griechischen, in der Mathematik und im deutschen Aufsatz, aber Harald kam doch mit und hatte bei seinem Fleiße auch Aussicht, durchs Abitur zu gelangen.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Albrecht der Bär

Albrecht der Bär

Das Glöckchen des Pedells hatte schon geläutet. Der Nachmittagsunterricht auf dem Gymnasium Robertinum zu Tatenhausen sollte beginnen. Im Vestibül, wo die Herren Professoren zu wandeln pflegten, präsentierte der Herr Direktor aus silberner Dose die letzte Prise. Gleichwohl war in der Obersekunda noch keine Ruhe eingetreten; die meisten Schüler befanden sich nicht einmal auf ihren Plätzen, sie füllten den breiten Raum, der sich wie die Straße von Gibraltar zwischen der vordersten Bankreihe und dem Katheder hinzog. In einem Kreise mit holperiger Peripherie umstanden sie lachend und jauchzend ihren Mitschüler Gausepohl, der allerdings ein ganz unerhörtes Kunststück zum besten gab. Gausepohl, eine Hüne von Gestalt und Kräften, der Riese unter sämtlichen Schülern des Gymnasiums, hatte den kleinen, zarten Elias Veilchenfeld gepackt, auf den Arm genommen wie ein Kindlein, und drehte sich nun mit seiner Bürde auf dem linken Stiefelabsatze wie ein Wirbelwind herum. Der Kleine schrie und zappelte, da ihm schwindlig wurde, der Große lächelte mit Backen so dick und rot wie Pfingstrosen, und mit Augen so schwarz und blitzend wie Steinkohlen, und die Mitschüler lachten und jauchzten wie wiehernde Füllen auf der Weide.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Der Schein trügt


Wirklich, eine sehr gemütliche Bude war es, die unser Mitschüler, der Sekundaner Ludolfus Leimers, bewohnte! Wir nannten sie nicht anders als das »Zelt der Samojeden«, da sie, eine Dachstube, an zwei Seiten, oben, abgeschrägt war und dadurch eine zeltartige Decke hatte. Warum aber gerade die Samojeden ihren Namen für dieses Bauwerk hergegeben hatten, das ist für mich mit dem Dunkel des Orkus verhüllt. Niemand von uns konnte sich einer näheren Bekanntschaft mit den Samojeden rühmen, wir wußten höchstens, daß sie »da oben herum« ein Nomadenleben führten; gewiß kannte auch niemand von uns die Bauart ihrer Zelte, ob dieselben rund, viereckig, bienenkorbartig, spitz oder platt seien – und doch war der Name da, so daß ich zu seiner Erklärung nur das Wort des Dichters citieren kann: »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort!«

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Friedrich der Weise

Friedrich der Weise

Wohl jeder von uns reitet sein kleines Steckenpferd. Der Quartaner Felix Schröder jagt den bunten Schmetterlingen der Wiesen nach und fühlt seine Wonne darin, die aufgespannten Falter nach Familien und Arten seinem Sammelkasten einzureihen; der Tertianer Georg Bruns ist auf Briefmarken erpicht und erlebt eine glückliche Viertelstunde, wenn er mit irgend einem seltenen Stück endlich die klaffende Lücke seines Albums überkleben kann; der Sekundaner Heinrich Hagedorn würde Uhrmacher geworden sein, wenn er nicht nach seiner Eltern Wunsch studieren sollte: seine freien Stunden verbringt er mit Vorliebe bei einem ihm bekannten Uhrmacher, und seine höchste Freude ist es, wenn ihm dieser eine hundertjährige silberne »Rübe« zum Auseinandernehmen und Ineinandersetzen überläßt. Wir haben einen steinreichen Privatmann gekannt, welcher sein Dasein und seine Geldmittel fast ganz auf das Sammeln von alten Schuhen verwandte, für die er vom »kulturhistorischen Standpunkte« aus schwärmte. Ein andrer sammelte altes Porzellan, ein dritter hatte all sein Sinnen und Trachten schönen Meerschaumköpfen zugewandt, und so weiter in infinitum.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Corvus Corax

Corvus Corax

Sämtliche hundertfünfundsiebzig Schüler des Progymnasiums zu Winkelhausen kannten den »Corvus Corax«, das heißt den zahmen Raben des Sekundaners Arnold Hoppensack. Er, der Rabe, empfing Besuche, wie ein großer Herr. Die Sextaner, die Quintaner, die Quartaner, Tertianer und Sekundaner machten ihm der Reihe nach ihre Aufwartung und belegten ihn mit Ehrentiteln wie »kapitaler Kerl«, »famoser Junge«, »gediegener Bursche«, »ein Vogelgenie«, »ein würdiger Nachfolger der Raben Wodans« u. s. w. Besonders gutmütige Seelen brachten ihm auch ein Stückchen Rindfleisch mit, das Corvus Corax mit seinem starken, scharfen Schnabel so durchzubeißen verstand, als sei es mit einer Schere durchschnitten. »Schneidiger Kerl« hieß er dann. Und in der Tat verdiente Corvus Corax all diese Ehrentitel.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Hochmut kommt vorm Fall

Hochmut kommt vorm Fall

In jeder Gymnasialklasse befinden sich leider einige Schüler, welche gegen ihre Mitschüler eine gewisse Ueberhebung zeigen. Unter sich halten sie zusammen, besuchen sich auf ihren »Buden«, machen gemeinschaftliche Ausflüge, von denen sie später in der Klasse allerlei geheimnisvolle Andeutungen fallen lassen; sie bestreben sich, den Noblen zu spielen in Haltung und Kleidung und müssen immer was voraus haben vor ihren Mitschülern, gegen die sie abgeschlossen und hochnäsig sind. Meistens sind diese »Strunzmichel« der Klasse, wie man diese eingebildeten Burschen bei mir zu Hause nennt, oder wenn man will, diese principes scholae, nicht die besten, fleißigsten, talentvollsten Schüler; vielmehr sind sie in der Regel höchst mittelmäßige, ja oft sogar sehr beschränkte Köpfe, welche (der gütige Leser verzeihe mir meine Derbheit!) die Wahrheit des Sprichworts erhärten: Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Schweflers Namenstag

Schweflers Namenstag

Als der Unterprimaner Jodokus Schwefler mit dem Zeugnis Numero I. in die Oberprima aufstieg, erhielt er von seinem Papa die Erlaubnis, rauchen zu dürfen. In dieser Erlaubnis liegt nicht viel Verwunderliches, wenn man weiß, daß der neugeschaffene Oberprimaner bereits dreiundzwanzig Lebensjahre zählte. Jodokus hatte nämlich die Quarta und Untertertia so gründlich durchgemacht, daß er zwei Jahre in jeder Klasse verblieben war – »als ein leuchtendes Vorbild des Fleißes und guten Betragens für die übrigen Schüler,« wie er seinen Vettern vom Lande, den harmlosen Bauernjungen, weisgemacht hatte. In Wahrheit war Jodokus damals sehr schwach im Griechischen und in der Mathematik gewesen; aber plötzlich, als er in die Obertertia aufgestiegen war, hatte entweder sein Fleiß einen solchen Anlauf genommen, oder war sein Kopf mit einemmal so helle geworden, daß er von jetzt an tatsächlich zu den besseren Schülern gehörte und endlich sogar ein Zeugnis mit Numero I. in Erbpacht genommen zu haben schien.

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Th. Berthold | Lustige Gymnasialgeschichten | Meine eigene Stube

Meine eigene Stube

»In der neuen Wohnung, die wir am 1. Juli beziehen,« sagte meine Mutter während des Mittagessens, »soll unser Theodor auch eine eigene Stube bekommen.«

»Das kann mir gefallen,« bemerkte mein Vater; »denn, aufrichtig gestanden, liebe Frau, es ist recht störend für unsern Untersekundaner, wenn er, wie bisher, in Gegenwart von Linchen und Minchen, von Hänschen und Fränzchen, von Rosalie und Amalie studieren muß. Die Anforderungen der Schule werden immer größer, und der Lärm der jüngeren Geschwister wird immer lauter.«

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