Paul Heyse | Neue Märchen | Das Märchen vom Herzblut

Buchschmuck

Das Märchen vom Herzblut

(1898)

Es war einmal ein junger Mensch, wenn den die Leute fragten, was er einmal werden wolle, so antwortete er, ohne sich zu besinnen: ein Dichter. So hatte er schon als Knabe gesprochen, da er erst ein paar Jahre in die Schule gegangen war, Gesangbuchlieder auswendig gelernt und aus seinem Lesebüchlein Gellert’sche Fabeln aufgesagt hatte. Damals lachten die Leute und fanden es artig, daß Hans Lutz – so hieß der junge Schüler – allerlei Reime verfaßte und zu Geburtstagen und Neujahr seinen Eltern in Versen Glück wünschte. Als er aber das zwanzigste Jahr erreicht hatte und immer noch auf die Frage, welchen Beruf er sich erwählt habe, nichts Anderes zu erwidern wußte als: er wolle ein Dichter werden, schien seinem lieben Vater die Sache außer Spaß, und er erklärte dem Hänschen, der nun schon ein großer Hans geworden war, das Dichten sei eine brodlose Kunst, bei der schon die trefflichsten Leute verhungert seien. Hieraus erwiderte der Sohn mit einem seltsamen Feuer in seinen Augen: es stehe ja geschrieben, der Mensch lebe nicht vom Brod allein, und was er sonst zum Leben brauche, werde ihm der liebe Gott ja wohl zukommen lassen, der ja auch die Lilien auf dem Felde kleide, so daß sie lustig fortblühten und so lieblichen Duft aushauchten, als ob es die schönsten Gedichte wären.

In solchen aberwitzigen Gedanken bestärkte ihn ein Jugendfreund, der sich schon in frühen Jahren zu ihm gefunden und seitdem immer treue Kameradschaft mit ihm gehalten hatte. Es war das ein munterer Geselle, von dessen Herkunft und Sippschaft man nichts Sicheres wußte, auch nicht, wo er wohnte und wovon er seinen Unterhalt gewann. Nur seinen Namen, Phantasus, hatte er dem Freunde vertraut. Zwar besuchte er die Schule nicht, schien aber von allem Wissenswürdigen seinen Theil genascht zu haben und war ein so witziger Geselle, daß er, was er nicht wußte, sich zusammenträumte.

Der war nun dem jungen Dichter ein unzertrennlicher Gefährte, außer in den Schulstunden, obwohl die Eltern diesen Umgang, der ihren Sohn in seinen thörichten Schwärmereien bestärkte, sehr ungern sahen und nur duldeten, weil der Jüngling erklärte, es werde sein Tod sein, wenn er von diesem Freunde sich trennen sollte. So mußten sie es erlauben, daß dieser Phantasus ihren Hans auf langen Spaziergängen begleitete, sogar neben ihm saß, wenn er seine lateinischen Exercitien und mathematischen Aufgaben machte, die dadurch nicht eben besser wurden, und manche Nacht in Einem Bette mit ihm schlief. Niemand erfuhr, was die Beiden mit einander zu plaudern hatten; nur daß sie zuweilen lachten, zuweilen traurige Mienen machten, war ihnen anzusehen. Das Schlimmste war, daß Phantasus seinen Freund in der üblen Gewohnheit, Verse zu machen, bestärkte, ihm auch allerlei Geschichten erzählte, die Jener dann in Reime brachte, und wenn sie irgendwo hin kamen, wo sich junge Mädchen befanden, ihm zuraunte, Die oder Die sei die Hübscheste und wohl werth, von ihm angesungen zu werden.

Dies vergnügliche Leben hatte nun die längste Zeit gedauert, da that der Vater einen Machtspruch und bestand darauf, daß sein Hans auf der großen rheinischen Hochschule sich einem richtigen Brodstudium widmen sollte. Er dachte ihn auf diese Art zugleich von dem gefährlichen Freunde zu trennen und die poetischen Mücken zu verscheuchen, die ihm dermaßen im Hirn summten, daß kein vernünftiger Gedanke darin auskommen konnte.

Hierin aber hatte er sich getäuscht. Denn da Junker Phantasus frei war wie der Vogel in der Luft, hinderte ihn nichts, seinem Freunde nachzufliegen und ihm dort, wo er ohne jede Aufsicht war, noch ungebundener zur Seite zu bleiben als bisher.

Obwohl nun aber der junge fahrende Schüler die schönste Freiheit hatte, es mit dem Brodstudium nicht allzu ernst zu nehmen, und der phantastische Freund bei Tag und Nacht ihm Gesellschaft leisten konnte, wollte es doch mit dem Dichterwerden nicht so recht vorwärts gehen. Das Büchlein zwar, in das er seine Verse schrieb, erhielt einen beträchtlichen Zuwachs, da an »blondem Wein und braunen Mädchen« in Stadt und Umgegend kein Mangel war; aber eine innere Stimme raunte dem jungen Dichter zu, mit all diesem Singsang sei noch nichts Erhebliches geleistet, und der Ruhm bei Mit- und Nachwelt, um den es ihm zu thun war, werde so im Spazierengehen nicht zu erlangen sein.

Also steckte er eines Tages, was er von seinen poetischen Erstlingen für besonders gelungen ansah, zu sich und trug es zu einem gelehrten alten Literaturprofessor hin, ihn bescheidentlich um sein Urtheil bittend. Der empfing den schüchternen Jüngling ganz freundlich, blätterte in den dicken Heften, las hin und wieder ein Gedicht oder eine Seite in dem Trauerspiel »Konradin, der letzte Hohenstaufe«, und nach manchem Hum! und Hem!, das dem harrenden Scholaren das Blut ins Gesicht trieb, erklärte er ihm, die Sächlein seien ganz hoffnungsvolle Talentproben, alle aber noch so grün und unerheblich, daß er dringend rathe, sie doch ja vor Druck zu bewahren. Er müsse, wenn er was Rechtes schaffen wolle, sich vor allem des leeren Phantasiegeflunkers enthalten, ins volle Menschenleben hineingreifen oder sich einen schon hinlänglich präparirten Stoff suchen, ihn mit Fleiß und Liebe zu bearbeiten.

Hiermit entließ er den ziemlich verdutzten Musenjünger, indem er ihn noch unter der Thür seines Wohlwollens versicherte. Hans aber trug seine poetische Habe sehr niedergeschlagen nach Hause, warf das ganze Bündel in den Ofen, in dem gerade, da es schon stark herbstete, ein helles Feuer brannte, und ließ sich mit einem schweren Seufzer auf das Bette sinken, da er in Tristram Shandy gelesen hatte, jeden Kummer könne der Mensch in der horizontalen Lage am besten überwinden.

*

So fand ihn sein Freund, der indessen ein Bad im Rhein genommen hatte. Siehst du nun wohl, rief er, nachdem der junge Poet ihm das Urtheil des Professors mitgetheilt hatte, siehst du, wie Recht ich hatte, dich vor diesen alten Pedanten zu warnen, die nichts können, als mit der Scheere ihrer grämlichen Vorurtheile einem munteren Talent die Flügel beschneiden? Ins volle Menschenleben greifen – als hätten wir Zwei nicht schon genug Mädchen geküßt und tolle Suiten gemacht! Und was sollen das für Stoffe sein, die du »hinlänglich präparirt« bearbeiten müßtest? Habe ich dir nicht die schönsten Schnaken und Schnurren aus der Luft gegriffen und kann dir noch tausend Abenteuer erfinden, eines immer wundersamer als das andere? Aber ich sehe schon, mein Rath gilt dir nichts mehr, unsere Freundschaft hat sich etwas abgekühlt. Nun, so thue, was dieser weise Meister dir gerathen hat. Es ist gerade Jahrmarkt und Kirchweih in der Stadt, da kannst du das sogenannte Menschenleben im schönsten Flor finden. Was die Stoffe betrifft, mußt du dir freilich auch darin selber helfen. Auf alten Plunder und Trödlerwaare versteh‘ ich mich nicht.

Er wandte ihm schmollend den Rücken und rief ihm nicht einmal ein Ade! nach, als Hans sich aufmachte, seinem Rath zu folgen.

Auf einer Wiese vorm Thor der Stadt waren die Buden und Zelte des Jahrmarkts aufgeschlagen, und ein buntes Gewimmel von Stadtleuten und Landvolk trieb sich in den breiten Gassen dazwischen herum. Der junge Dichter gab sich die beste Mühe, etwas Poetisches unter den Gaffenden, Schwatzenden und Feilschenden zu entdecken, fand aber nur, was er auch sonst alle Tage gesehen hatte. An einem Glückshafen blieb er stehen und beobachtete die Hoffnungen und Begierden, mit denen die Bauernbuben und -dirnen in den Loostopf griffen, die Meisten, um eine Niete zu ziehen, die Glücklicheren, um einen Gewinnst heimzutragen, der ihnen unnütz war. Er selbst gewann auf den ersten Griff einen blanken zinnernen Löffel. Wenn es nun Brei regnet, sagte er tiefsinnig vor sich hin, indem er ihn in die Tasche steckte, so fehlt mir wenigstens nicht der Löffel. – Ein paar hübsche junge Mädchen, die untergefaßt verstohlen mit einander flüsternd an ihm vorbei strichen, warfen ihm einen aufmunternden Blick zu. Er folgte ihnen und fing einen kleinen galanten Discurs mit ihnen an. Als sie aber ziemlich freche und einfältige Antworten gaben, machte er sich bald wieder von ihnen los, worauf sie ihm ein schnödes Hohnwort nachriefen. Aus einer Trinkbude rief ihn ein Rudel bekannter Studenten an; er entschuldigte sich aber, daß er sich nicht zu ihnen setzen könne wegen eines wichtigen Ganges. Was hätte er dort erfahren können, das er nicht längst schon wußte? So ging er in mißtröstlichen Betrachtungen weiter und sagte sich, hier betrage sich die liebe Menschlichkeit so höchst prosaisch, daß für einen Poeten, der aus der Wirklichkeit schöpfen wolle, nichts zu holen sei. Er bereute schon, sich mit Freund Phantasus überworfen zu haben. Seine erste Liebe, bei der Jener ihm so hübsche Gedanken eingegeben, war doch was Anderes als die Gunst dieser albernen Grasaffen, und andere aufregende und doch anständige Abenteuer ließen sich hier im Marktgewühl schwerlich erjagen.

So war er an das Ende der Budenstadt gelangt und dachte schon daran, für einmal den Griff ins volle Menschenleben aufzugeben, als er etwas abseits unter einigen hohen Weidenbäumen eine Bude erblickte, auf deren Schild in Goldbuchstaben geschrieben stand: Stoffhandlung. Das Wort fesselte ihn, obwohl er nichts weniger als ein Lager solcher Stoffe dahinter vermuthete, wie der alte Professor sie ihm gewünscht hatte. Vor der halb offenen Thür des ganz verwitterten Bretterhäuschens saß ein uraltes Weib, das eifrig an einem großen Gestrick mit langen hölzernen Nadeln arbeitete. Was strickt Ihr da, Mütterchen? fragte der junge Dichter und blieb bei ihr stehen. Die Alte blickte mit Augen, die seltsam leuchteten, zu ihm auf. Nichts für Euch, junger Herr, sagte sie. Ich stricke einen Romanstoff für Familienblätter, aus weißer Lammwolle, die Figuren werden hernach mit bunten Lappen aufgenäht. Aber drinnen im Laden hab‘ ich die rarsten Stoffe, wie sie für die besten Dichter taugen. Ich seh’s Euch an, auch Ihr gehört zu dieser Gilde. Wenn Ihr meine Waare sehen wollt – hoffnungsvollen jungen Leuten geb‘ ich sie zu herabgesetzten Preisen.

Damit rollte sie ihr Gestrick zusammen und stand von dem niederen Bänkchen auf, ihm voranzugehen. Woran habt Ihr erkannt, daß ich auch dichte? fragte der Jüngling. – Ha, weil Ihr mehr in die Luft starrt als auf die Erde und über den Strohhalm dort gestolpert seid. Aber nun tretet ein und sagt, ob ich geprahlt habe. Hier haben schon ganz andere Leute Mund und Nase aufgesperrt und mir ihre Kundschaft zugetragen.

In der That sah es im Innern der Bude so bunt und schimmernd aus, wie man’s von außen nicht vermuthet hätte. Die seltensten Stoffe vom feinsten Gewebe, seiden und sammten, mit eingestickten Figuren und alten Sinnsprüchen hingen an den vier Wänden herum, daß einem die Wahl weh thun konnte. Das Weibchen weidete sich eine Weile an dem Starren und Staunen des Jünglings. Was für ein Zeug wünscht Ihr, mein Sohn? fragte sie endlich. Da sind uralte ägyptische Muster, die sind seit einiger Zeit wieder in die Mode gekommen. Daneben altgriechische und römische, werden weniger mehr begehrt. Auch nach den mittelalterlichen ist nicht mehr so viel Nachfrage wie noch vor dreißig, vierzig Jahren. Die allerneuesten möchte ich Euch nicht empfehlen, die sind nicht eben sauber, sondern werden gerade wegen ihrer Schmutzfarben gesucht von sonderbaren Schwärmern. Ueberhaupt aber müßt Ihr mir zunächst erklären, welche Gattung ihr wünscht. Ich habe eine Menge historisch gut beglaubigte, andere, die nur von Chroniken und Novellenbüchern verbürgt sind.

Nein, sagte der Jüngling, ich will nichts Historisches. Mein »Konradin« liegt mir noch in den Gliedern. Wenn Ihr einen recht soliden Stoff hättet für ein leidenschaftliches Trauerspiel mit viel Liebe, Mord und Todtschlag und dazwischen eine Menge holder Gefühle, der wäre mir der liebste. So etwas wie »Romeo und Julie« von Shakespeare. – Bei diesem Namen nickte die Alte mit einem eigenen Zwinkern ihrer hellen Augen still vor sich hin. Den hab‘ ich gut gekannt, sagte sie; er war einer meiner besten Kunden, ein sehr lieber Herr, der sich immer freundlich nach meinem Befinden erkundigte. Ich muß lachen, wenn ich jetzt höre, er sei gar nicht er selbst gewesen, sondern ein vornehmer Herr und großer Gelehrter. Daß er viel studirt hatte, bezweifle ich, aber auf Stoffe verstand er sich wie Wenige, und es war ein Vergnügen, ein Geschäft mit ihm zu machen, weil er aus Allem, was er mir abkaufte, was Rechtes zu machen wußte, während so mancher andere hochmüthige Herr die schönsten Stoffe jämmerlich verschneidet. Nun, da Ihr ihn auch verehrt – da hab‘ ich gerade noch einen schönen Rest von einer Sorte, die auch der Herr Shakespeare besonders liebte, es ist alter italienischer Goldbrocat, die Motten sind nicht hineingekommen, nur von Staub und Sonne ist er ein bischen abgeblaßt. Darauf kommt es aber nicht an, das sind hernach die dauerhaftesten.

Sie nahm ein altes, gelbliches Stück Zeug vom Nagel und hielt es ausgebreitet gegen das kleine Fenster. Ist es nicht ein Prachtstück? sagte sie, indem sie es schüttelte, daß ein leichtes Staubwölkchen daraus aufwallte. Die Goldfäden sind ein bischen rostig geworden, aber die Zeichnung noch ganz wohl erhalten. Wenn sie Euch nicht deutlich genug ist, braucht Ihr nur ein paar Tropfen Herzblut daranzuspritzen, und sogleich wird jede Figur in ihren frischen natürlichen Farben Euch entgegen glänzen.

Freund Hans hätte gern gestanden, daß er in dem alten Gobelinrest nicht viel mehr erkannte als ein verschossenes Arabeskenmuster, aus welchem einige verblichene Püppchen aufzutauchen schienen. Er wollte doch aber nicht verrathen, wie schlecht es um seine Kennerschaft stand, und die Autorität des großen Dichters, der diese Sorte bevorzugt hatte, schüchterte ihn vollends ein. Also fragte er nur etwas beklommen nach dem Preise, ob die Rarität auch nicht für seinen bescheidenen Studentenwechsel unerschwinglich sei.

Ihr braucht sie mir gar nicht gleich zu bezahlen, versetzte das alte Weibchen, während sie den kostbaren Stoff zusammenrollte und in ein großes Zeitungsblatt verpackte. Anfängern gegenüber bin ich immer coulant. Wenn Ihr mich fernerhin mit Eurer Kundschaft beehrt, werde ich schon sehen zu meinem Schaden zu kommen.

Damit schob sie das Packetchen dem jungen Dichter unter den Arm, begleitete ihn hinaus, und als er, sich langsam entfernend, noch einmal nach ihrer Hütte umblickte, saß sie schon wieder aus dem Bänkchen und regte eifrig die langen Nadeln an ihrem Gestrick.

*

Zu Hause angelangt, fand er den Freund am Fenster sitzend und blaue Wölkchen aus seiner kurzen Pfeife hinausblasend, die allerlei Figuren bildeten, eine Weile im Winde schwankten und dann zerflatterten.

Nun, junges Genie, rief ihm Phantasus entgegen, hast du den wahren Weg zum ewigen Ruhm entdeckt oder den Lorbeerkranz wohl gar schon fix und fertig auf dem Jahrmarkt erhandelt? Laß sehen, was du eingeheims’t hast!

Er sprang auf, nahm dem Anderen die Rolle weg und wickelte sie aus. Weiter nichts als diesen alten Fetzen? rief er und wollte den Stoff in den Winkel schleudern. Der junge Poet aber fiel ihm in den Arm. Sachte! brummte er, erst wollen wir ihn in Augenschein nehmen. Damit breitete er ihn sorgfältig auf dem Tische aus, indem er dem Freunde erzählte, wie er dazu gekommen war. Der, als er hörte, er sei von der Sorte, die der große Dichter bevorzugt hatte, war ganz still geworden, beugte sich über den Tisch und stierte auf das verblichene Prunkstück. Nach einer Weile brach er in ein helles Gelächter aus.

Da hast du dich schön anführen lassen, theures Kind! rief er. Ich habe doch gute Augen, aber wenn ich auf diesem alten Lumpen etwas Anderes sehe als krause Schnörkel, ein paar Arme und Beine und verdrehte Köpfe dazwischen, will ich Hans heißen.

Auch ich, sagte sehr kleinlaut Jener, der wirklich so hieß, kann aus diesem Stoff nicht klug werden; aber das alte Handelsweibchen hat gesagt, ich brauchte ihn nur mit ein paar Tropfen Herzblut zu netzen, so würden alle Linien deutlich hervortreten und die Farben frisch zu leuchten anfangen. – Und du wolltest die Tollheit begehen, auf das Wort einer verschmitzten Hexe hin, die einen Ladenhüter an den Mann bringen wollte, einen Aderlaß zu riskiren? Nun, das ist Geschmackssache. Ich aber, als dein Freund, kann dir nur rathen, den Plunder in denselben Ofen zu stecken, in dem du heute Morgen deine Jugendsünden verbrannt hast.

Damit wandte er ihm den Rücken und fuhr in seinem lustigen Spiel mit der dampfenden Pfeife fort. Der gute Junge, den es nicht wenig verdroß, zum Schaden auch noch den Spott zu erfahren, sagte kein Wort mehr, beschloß aber im Stillen, morgenden Tages seinen Kauf der alten Stoffhändlerin zurückzubringen und zu verlangen, daß sie ihn gegen einen anderen, besser erhaltenen umtauschte, wenn sie ihren Credit bei jungen und alten Dichtern nicht verlieren wollte.

Als er aber am andern Tage sich wieder nach ihrer Bude aufmachte, hatte er doch nicht den Muth, sogleich seinen Kauf wieder einzupacken, da er den Versuch mit dem Herzblut noch nicht gemacht hatte. Er ließ den Stoff also zu Hause, um zunächst mit der Alten darüber zu verhandeln, ob das Blut gerade vom Herzen kommen müsse, oder ob es genüge, wenn er sich in den Finger schnitte. So schlenderte er nachdenklich durch die Budenstadt, war aber sehr erstaunt, als er an ihrem Ende die Stoffhandlung nicht mehr erblickte. Auf seine Erkundigung bei den benachbarten Händlern wollte Niemand ein altes Mütterchen, wie er es beschrieb, und ihre Hütte gesehen haben. Nun glaubte er sich erst recht angeführt und das Opfer eines schlauen Schwindelgeschäfts zu sein und schämte sich gewaltig, seinem Stubenburschen wieder vor die Augen zu treten.

Indem er so darüber nachsann, wo er die Zeit hinbringen könnte, bis er sicher wäre, Phantasus schlafend in seinem Bett zu finden, hörte er von der anderen Seite der Marktwiese nahe am Fluß ein Trompetengeschmetter, das zum Eintritt in eine große Reiterbude einlud.

Er fühlte zwar nicht die geringste Lust, Pferde herumlaufen zu sehen und alberne Clownsspäße zu hören, ging aber doch nach dem runden Bretterbau, dem heute, da gerade Sonntag war, ein dichtes Menschengewühl zuströmte. Die unteren Plätze waren schon alle besetzt, er fand nur einen Sitz in einer letzten noch freien Loge, wo er sich mißmuthig niederließ und gedankenlos auf den dunklen Krautacker von Menschenköpfen hinabsah. Die schrille Blechmusik betäubte ihn, und an den ersten Stücken des langen Programms fand er so wenig Gefallen, daß er schon im Begriff war, sich wieder davonzumachen, als ein Trompetentusch eine Glanznummer ankündigte, das Auftreten der weltberühmten »Fee Delibab, der ersten Equilibristin und Schulreiterin der alten und neuen Welt«.

Sogleich öffnete sich die Schranke, zu deren Seiten ein Häuflein Offiziere sich aufgestellt hatte, und an der Hand eines rothbefrackten Stallmeisters erschien ein Mädchen, das mit einem schallenden Händeklatschen von der militärischen Verehrergarde begrüßt wurde. In diese Huldigung stimmte das laute Herzklopfen des jungen Dichters mit ein. Denn wirklich war’s eine Erscheinung, die ihren überschwänglichen Namen mit allem Rechte trug, ein schlank und doch kräftig gegliedertes Fräulein, ganz in ein silbern schimmerndes Tricot gekleidet, die volle Brust von einem blau atlassenen Mieder umspannt, um die Hüften bis zu den Knieen hinab ein weitbauschiges Röckchen von derselben Farbe, mit Sternen übersät. Das Bezauberndste an ihr war aber der kleine Kopf, das längliche blasse Gesichtchen, ungeschminkt, aus dem zwei tiefschwarze Augen vorglänzten, Alles umrahmt von einer wilden Flut dunkler Haare, die über der niederen Stirn von einem schmalen Goldreif gebändigt war, dann aber frei bis über die Hüften herabwallte.

Mit einem flüchtigen Lächeln dankte sie, sich rechts und links verneigend, ihren Verehrern, griff dem starken isabellfarbenen Pferde, das ihr nachgeführt wurde, in die dichte Mähne und lief dann eine Strecke weit neben ihm her, während das Thier, die rosenrothen Nüstern blähend, von der wieder anhebenden Musik und den Hieben ihrer Reitpeitsche befeuert im Kreise herumzugaloppiren begann. Auf einmal hatte sie sich hinaufgeschwungen und wiegte sich, die Arme über der Brust gekreuzt, frei auf der weichen Decke sitzend, eine Weile nach dem Takt der Tanzweise, indem sie ihre funkelnden Augen gleichgültig über die Menge schweifen ließ.

Der Jüngling in der einsamen Loge droben folgte jeder ihrer Bewegungen in athemloser Verzückung. Sie erschien ihm wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt, und es hätte ihn nicht in Erstaunen gesetzt, wenn ihr plötzlich an dem schlanken Rücken Flügel gewachsen wären und sie durch die Lücke des Leinwanddaches in den freien Himmel hinausgetragen hätten. Die Lampen an den Pfeilern ringsum warfen spielende Lichter über die geschmeidige Gestalt und erhellten auch das reizende Gesicht hinlänglich, so daß er deutlich einen finsteren Zug an ihrem streng geschlossenen Munde bemerken konnte und ein zorniges Blitzen der Augen, wenn ihr galoppirendes Pferd, von ihrem wilden Zuruf gespornt, einen ungeschickten Sprung machte. Immer rasender jagte sie im Kreise herum, sprang durch die vorgehaltenen Reifen, saus’te durch die mit Seidenpapier bespannten Ringe, die Haare flogen ihr wie ein schwarzer, sturmgepeitschter Mantel nach, so daß ihr weißer Nacken darunter vorschimmerte; ein Taumel ergriff das sämmtliche Publikum bei dem sinnverwirrenden Wirbeltanz, bis plötzlich, mitten im tollsten Jagen, die wilde Jägerin vom Pferde glitt, ohne eine Spur von Erregung sich nach allen Seiten verneigte und blitzschnell mit ein paar leichten Sprüngen durch die Schranke verschwand.

Der Beifallssturm, der ihr nachbraus’te, rief sie noch einmal zurück. Aus einigen der oberen Logen fielen Kränze und Blumensträuße zu ihr hinab, von denen sie nur einen einzigen aufhob, ihn an die Brust drückte und, mit einem bezaubernden Lächeln sich verneigend, mit hinwegnahm. Der übrige bunte Kram wurde ihr von einem der Bajazzi unter lächerlichen Geberden nachgetragen.

Der junge Zuschauer droben, der sich die Hände zerklatscht hatte, war tief beschämt, daß er keine Blume ihr hatte zuwerfen können. Wie in einem seligen Rausch verließ er seinen Platz, um für ihr Wiederauftreten besser versorgt zu sein. Die Händlerin draußen hatte aber ihren ganzen Vorrath bereits an die Herren Offiziere verkauft. Nur ein paar dunkle Rosen waren ihr geblieben, nach denen der Jüngling begierig griff. Dann ging er, ohne sich zu beeilen, die heiße Stirn in der Nachtluft kühlend, eine ganze Weile um den Circus herum, da ihm die folgenden Productionen bis zu ihrem Wiederauftreten sehr gleichgültig waren.

Als er dann seinen Sitz wieder eingenommen hatte, dauerte es nicht lange, so sprengte auf einem stolzen kohlschwarzen Hengst, der einen weißen Stern an der Stirn hatte, die junge Fee wieder durch die Schranke herein, in so ganz anderer Gestalt, daß die Zuschauer unten, die meist aus geringeren Stadtleuten und bäuerlichen Marktbesuchern bestanden, sie nicht sogleich erkannten, während ihre militärische Leibgarde sie mit erhöhter Begeisterung empfing. Sie trug ein eng anschließendes dunkelgrünes Reitkleid, die Haare nicht mehr frei flatternd, sondern in einem schweren Knoten im Nacken aufgesteckt, auf dem kleinen Haupt einen glänzenden Cylinderhut, mit einem grauen Schleierchen umsäumt. Langsam, ihren Verehrern gnädig zunickend, begann sie dann ihren Umritt, mit einem leichten Gertenschlag, einem Zügeldruck oder einem leisen Schnalzen der Zunge das feurige Thier nach ihrem Willen lenkend.

Auch jetzt hing das Auge des jungen Dichters wie gebannt an ihrer Gestalt, obwohl ihm die Geheimnisse der hohen Schule, die den Leutnants das helle Entzücken bereiteten, durchaus fremd waren. Als sie aber endlich ihre sämmtlichen Künste gezeigt und mit der Reitpeitsche salutirend wieder hinausgesprengt war, mischte er seine Stimme in den tobenden Ruf der Menge und war überglücklich, daß es ihm gelang, da sie gelassen wieder hereinritt, seine beiden Rosen so geschickt zu werfen, daß die eine gerade an ihre Brust, die andere vor ihr aus den Sattelknauf fiel,

Sie warf in die Loge, aus der dieser bescheidene Gruß gekommen war, einen leuchtenden Blick, neigte leise den Kopf und lenkte dann das schaumbedeckte Thier durch die Schranke zurück. Dem glücklichen Hans war zu Muth, als wäre ihm ein Funke aus diesen schwarzen Augen geradewegs ins Herz gefahren. In einer seltsamen Betäubung blieb er auf seinem Sitz, die Wimpern eingedrückt, von Zeit zu Zeit beklommen seufzend, immer das reizende junge Wesen vor seinem inneren Auge. Was da unten noch vorging, würdigte er keines Blicks. Delibab! sagte er vor sich hin. Er entsann sich, daß dies der Name der ungarischen Fee Morgane ist. Ein dichterisches Motiv, dieses Erlebniß mit jener Mythe zusammenzufügen, dämmerte in ihm auf. Eben wollte er sich erheben, um draußen im Freien den Traum weiterzuspinnen, da öffnete sich leise die Thür seiner Loge, und mit einem kurzen Gruß trat sie selbst zu ihm ein, noch in dem Reitanzug, wie sie eben die hohe Schule geritten hatte.

Er war aufgesprungen, mit heftigem Herzklopfen, das ihn kein Wort hervorbringen ließ. Sie deutete aber, ihm freundlich zunickend, mit einer Geberde an, daß er sich nicht stören lassen solle, und setzte sich auf einen Stuhl in der zweiten Reihe, ein wenig hinter ihm. Auch er schob nun seinen Stuhl zurück und fand so viel Athem, ein Wort des Entzückens über ihr Auftreten zu stammeln. Hier in nächster Nähe erschien sie ihm noch viel schöner, so zart ihre etwas gelbliche Haut, die langen schwarzen Wimpern leicht am Rande umgebogen, ein ganz leiser Anflug von feinen Härchen an ihrer Oberlippe. Und wie ihre Zähne glänzten, als sie jetzt zu sprechen anfing! Ob er auch ein Liebhaber und Kenner von Pferden sei? Nein? Was er denn sei? Ein Dichter! Dergleichen seien ihr schon öfter vorgekommen, aber sie hätten alle kümmerlich ausgeschaut, und er sei ein so schmucker junger Mann. Ob er auch ein Gedicht auf sie machen und in die Zeitung setzen wolle? Nein, von ihm verlange sie das gar nicht. Er gefalle ihr auch ohne schöngereimte Worte, er habe so was Besonderes in seinem Wesen, das habe sie gleich weggehabt, als er ihr die Rosen zugeworfen, und sie habe sich vorgesetzt, seine Bekanntschaft zu machen. Denn sie werde so gelangweilt von den anderen Anbetern da unten, die immer nur dieselben überschwänglichen Redensarten vorbrachten, während sie – er solle nicht denken, daß sie immer vergnügt sei (das sagte sie mit einem tiefen Seufzer, und ihre feinen schwarzen Brauen zogen sich finster zusammen) – nein, außer wenn sie auf ihrem Almansor reite, fühle sie sich unglücklicher, als ein Mensch ahne, da sie keinen wahren Freund habe, und der Ruhm – pah! der Ruhm! – –

Er ließ sie reden, ohne sie zu unterbrechen, hingerissen von der eigenen Manier und dem fremdartigen Accent, in dem sie Alles vorbrachte, und mehr noch von dem Vertrauen, das sie ihm gleich in der ersten Viertelstunde schenkte, wie einem alten Freunde. Sie blickte dabei aufmerksam, trotz ihrer Melancholie, in den Circus hinab und ließ zuweilen ein tadelndes oder anerkennendes Wort fallen, je nachdem ihre Collegen es verdienen mochten. Endlich stand sie auf.

Sie werden bis zu Ende bleiben. Ich aber bin müde und möchte nach Hause. Gute Nacht! – Eifrig erklärte er, auch er habe von dem Schauspiel genug, und es würde ihm eine hohe Freude und Ehre sein, wenn sie ihm erlaube, sie zu begleiten. – Wie Sie wollen, sagte sie. Es ist übrigens nicht weit. Aber kommen Sie schnell, eh die geschniegelten Gecken da unten merken, daß ich mich zurückziehe.

Sie schlüpften eine enge dunkle Holzstiege hinab und traten ins Freie. Wie schön die Sterne funkeln! sagte sie, indem sie sich ungezwungen an seinen Arm hing. Wenn ich die große Bärin seh‘, denk‘ ich immer an den Himmel über meiner Heimath. Ich bin nämlich in einer Hütte auf der Pußta geboren, mein Vater hatte eine kleine Schafheerde und ein paar Pferde; schon als winzig kleines Mädel ritt ich über die weite Haide ohne Sattel und Zaum, das war meine einzige Freude, denn im Uebrigen hatt‘ ich wenig gute Tage, da meine Mutter krank war. Der Vater hatte sie einmal im Rausch so hart geschlagen, daß sie nie wieder ganz gesund wurde. Da mußt‘ ich alle schwere Arbeit im Hause thun. Und endlich – ich war vierzehn Jahr – hielt ich’s nicht mehr aus und entfloh mit einem jungen Zigeuner, wir beide auf den Pferden meines Vaters; so konnte er uns nicht einholen. Denken Sie sonst nichts Schlimmes von mir. Ich liebte meinen Gefährten nicht; in der Stadt ersah ich mir bald die Gelegenheit, ihm zu entwischen, dann nahm eine gute Frau mich in ihr Haus zu ihren kleinen Kindern, bis mir auch das langweilig wurde. Und als eines Tags eine Reitergesellschaft in die Stadt kam, lief ich aus dem Dienst weg und dachte, ich käme in den Himmel, wie ich zum ersten Mal wieder auf ein Pferd kam. Nun, seitdem bin ich dabei geblieben. ’s ist mit unserer Kunst wie mit Allem, was Menschen thun: viel Weh und wenig Wonne. Ich weiß nicht, ob es mit dem Dichten besser steht. Sie schauen auch nicht gerade sehr lustig aus Ihren hübschen Augen.

*

Sie waren unter diesen Reden bei der Wohnung der »Künstlerin« angelangt, einem niedrigen Hause, das einsam an der Straße lag. Hier muß ich Sie verabschieden, sagte die Fee Delibab. Meine alte Maruscha wird sich schon wundern, wie lange ich heut‘ ausbleibe, da ich sonst gleich nach meiner letzten Nummer weggehe. Haben Sie Dank für Ihre Begleitung; ich darf wohl »auf Wiedersehen!« sagen?

Sie zog den Reithandschuh aus und reichte ihm ihre kräftige, bleiche Hand. Als er sie küssen wollte, zog sie sie zurück. Nein, sagte sie, für einen Dichtermund ist sie zu gering, der darf sich höher hinaufwagen. Damit umfing sie ihn rasch und drückte ihm einen leichten Kuß auf die Lippen. Und nun schlafen Sie wohl, nein, schlaf wohl! Wen ich geküßt habe, der ist mir kein Fremder mehr, zu dem muß ich du sagen. Also gute Nacht und träume was Hübsches von der Delibab oder vielmehr von Irma, denn so bin ich getauft, und den anderen Namen führe ich nur auf den Placaten.

Sie zog die Klingel am Hause; sogleich öffnete sich die Thür, und ein altes Weibchen erschien aus der Schwelle, in dem Hans Lutz die Verkäuferin der Stoffhandlung zu erkennen glaubte. Doch wurde er wieder zweifelhaft, da sie ihn aus ihren scharfen alten Augen fremd und sonderbar anstarrte.

So ging er, von allem Erlebten verwirrt und aufgeregt, langsam die Straße zurück und über den jetzt todtenstillen Jahrmarkt nach Hause. Der Freund lag schon zu Bette, war aber noch wach und begrüßte ihn mit einem forschenden Blick. Du bist lange ausgeblieben, Hans, rief er. – Ich erzähle dir morgen Alles, versetzte der Jüngling. Jetzt bin ich zu müde dazu. Gute Nacht!

Er warf sich aufs Bett, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Auf seinen Lippen fühlte er noch immer den sanften Druck des reizenden Mundes, die schwarzen Augen glühten ihn an, als ob es taghell in seinem Schlafgemach wäre. Irma! – wie oft sagte er sich den fremdklingenden Namen vor und rief sich die schlanke, schimmernde Gestalt mit ihren kecken Sprüngen und dem schwankenden Wiegen auf dem Rücken des Pferdes zurück. Das Blut klopfte ihm ungestüm in den Adern. Daß es ein solches Geschöpf auf Erden gab und er so vertraulich ihm begegnen durfte – was waren all seine »ersten Lieben«, deren er drei bis vier zählen konnte, mit ihren zahmen Freuden und Leiden gegen dieses bezaubernde Gefühl einer ersten, allgewaltigen Leidenschaft!

Am frühen Morgen saß er schon am Schreibtisch und mühte sich ab, Verse an sie zu dichten. Das war ihm sonst, wenn er ein schönes Mädchen ansingen wollte, so leicht von der Hand gegangen. Heute versagte ihm jedes Wort; jede zierliche Wendung schien ihm armselig gegen das stürmische innere Gefühl. Phantasus, der mit halb spöttischer, halb mitleidiger Miene um ihn herumstrich, hörte endlich auf, etwas aus ihm herauslocken zu wollen. Da macht einmal wieder Einer einen dummen Streich! citirte er – denn er war wohlbelesen in seinem Goethe. Dann sah er, wie der stumme Freund das angefangene Blatt zerriß und aus dem Hause lief.

Den Gedanken, seiner Schönen einen Morgenbesuch zu machen, gab er bald wieder auf. Er fürchtete, sie möchte im hellen Tageslicht sich wundern, was sie gestern unter dem Sternenhimmel Besonderes an ihm gefunden habe. In seine Sehnsucht vertieft, schlenderte er durch die Stadt – an der Universität stahl er sich hurtig vorbei –, und da er im Schaufenster eines Juweliers ein Paar seltsame Ohrringe sah, trat er ein, sie zu kaufen. Es waren ziemlich große und breite Goldreifen, die sich irgendwie aus dem Süden, wo dergleichen üblich sind, hieher verirrt hatten, oben mit einem Rubin geschlossen. Hans erinnerte sich, daß Irma nur ganz kleine verbogene Ringlein in den Ohren getragen hatte, und dachte, wie hübsch die rothen Steine funkeln müßten, wenn die dunkle Mähne darüber hinwehte. Der Preis überstieg freilich weit sein Vermögen, denn es seien echte Steine und sehr kostbar, versicherte der Händler. Endlich kam der Kauf doch zu Stande, da Hans seine Uhr aus schwerem Golde, ein Erbstück vom Großvater, dazu gab – nur vorläufig als Pfand, beruhigte ihn der Juwelier. Er könne das Familienstück nach und nach durch Abzahlungen wieder in seinen Besitz bringen.

So zog der junge Verliebte sehr zufrieden mit seinem Handel ab und verbrachte den Rest des Tages in ziellosen Wanderungen, ungeduldig den Abend herbeisehnend. Als endlich das Trompetensignal ihm ankündigte, daß die Stunde seines Glücks angebrochen sei, versicherte er sich hastig desselben Platzes in der Loge, den er gestern eingenommen. Heut aber war der Zudrang nur gering, die unteren Bänke zur Hälfte leer, in den Logen nur hie und da einer der Honoratioren mit seiner Familie. Es war dem verliebten Jüngling unbegreiflich, daß nicht Jeder, der sie einmal gesehen, Abend für Abend unwiderstehlich in den Circus zurückgezogen würde. Und wirklich, trotz des leeren Hauses, übertraf sie sich heute selbst, in noch viel verwegneren Künsten und einem Costüm, das noch ausgesuchter all ihren Reiz zur Schau brachte. Nur an den Schranken unten die jungen Offiziere waren ihr treu geblieben und huldigten ihr noch lärmender als gestern. Hans aber war mit seinem Herzen so ganz in den Augen, daß er sogar das Klatschen vergaß; das schien ihm nur ein verächtlicher Beifallsausdruck, wo sich die höchsten Wunder der Kühnheit und Anmuth offenbarten.

So entschuldigte er sich auch gegen sie selbst, als sie richtig wieder nach ihrer letzten Nummer zu ihm in die Loge trat. Du bist ein dummes Kind, sagte sie und gab ihm einen sanften Schlag auf die Wange; wir können an Händen, die uns beklatschen, nie genug haben. Doch ausnahmsweise lass‘ ich mir deine stumme Begeisterung gefallen. Nun aber komm! Wir wollen gleich nach Hause. Ich habe dir viel zu sagen.

Sie zog ihn hinaus, und er folgte ihr in seliger Beklommenheit. Als sie unten aus der Thüre traten, stand einer ihrer eifrigsten Anbeter Schildwacht davor. Sie sollen mir heute nicht wieder entschlüpfen, reizende Fee! rief er. Ich beanspruche das Recht, Sie nach ihrer Behausung zu escortiren. – Dies Recht habe ich bereits Jemand anders eingeräumt, erwiderte sie kurz und kühl. Adieu, Herr Leutnant! Damit nahm sie Hansens Arm und ging an dem Lästigen vorbei. Der aber rief ihr nach: Ueber den Geschmack soll man bekanntlich nicht streiten. Daß Sie mir aber diesen grünen dummen Jungen vorziehen, ist denn doch pyramidal.

Sofort stand Hans still und sagte: Verzeih einen Augenblick. Ich habe dem unverschämten Gesellen etwas ins Ohr zu sagen. – Um Gotteswillen! hauchte sie – er weiß nicht, was er spricht – ich beschwöre dich ,–! Hans aber war zu dem Beleidiger getreten und hatte ein paar leise Worte mit ihm gewechselt, worauf er zu der erschrockenen Freundin zurückkehrte. Obwohl er ihr sagte, um sie zu beruhigen, der Angreifer habe das Schimpfwort zurückgenommen, blieb sie doch ungläubig und so wortkarg, daß nun ihm sich die Zunge lös’te und er ihr erzählte, wie er diese vierundzwanzig Stunden nur im Denken an sie hingebracht hatte.

Sie erwiderte nichts, als daß sie leise seinen Arm drückte. Zu Hause angelangt, gab sie der alten Dienerin – nein, es war kein Zweifel möglich, er fand hier wirklich die »Stoffhexe« wieder – in einer fremden Sprache einen Auftrag und zog sich dann in ein Zimmer nebenan zurück. Nach zehn Minuten erschien sie wieder in einem losen, hellen Schlafrock, statt des Gürtels eine rothe Schärpe um die Mitte geschlungen, die Haare wieder aufgelös’t. Sie lächelte ihm entgegen, da seine leuchtenden Augen ihr sagten, wie sehr sie ihm auch in diesem Costüm gefiel. O, sagte sie, Fee Delibab hat noch mancherlei Verkleidungen, in so viel Farben wie der Regenbogen. Aber nun komm, Hänschen, ich habe starken Hunger und noch mehr Durst. Du mußt aber mithalten.

Sie setzten sich an den Tisch, auf dem die Alte ein paar Schüsseln mit kalter Küche und eine Flasche mit rothem ungarischem Wein aufgetragen hatte. Irma füllte zwei seine venetianische Gläser und reichte ihm das eine. Auf gute Freundschaft! sagte sie und stieß mit ihm an. Aber da er heftig sein Glas dem ihren näherte, zersprang dieses, und die rothe Flut ergoß sich über das Tischtuch. Kehre dich nicht daran! rief sie, seine Bestürzung gewahrend. Das bedeutet nur, daß wir besser thun, aus Einem Glase zu trinken. Und nun nahm sie ihm das seine aus der Hand und leerte es auf einen Zug.

Die Alte hatte murrend und vor sich hin raunend das Tischtuch weggenommen. Wenn man ein bischen nachhilft, Mütterchen, könnt Ihr einen blutigen Romanstoff daraus machen, wagte er zu sagen, wobei er sie prüfend ansah. Sie stellte sich aber, als verstände sie nicht, was er meine, und verließ kopfschüttelnd das Gemach.

Nun sind wir allein, sagte Irma, nun wollen wir uns zusammensetzen und ernsthaft allerlei besprechen. – Vorher möchte ich dir noch ein bescheidenes Andenken überreichen, stammelte er und zog den kleinen Schmuck hervor. – O du großer Kindskopf, rief sie, was fällt dir ein! Meine Ohrringerln scheinen dir zu dürftig für eine in der alten und neuen Welt gefeierte Künstlerin. Aber du mußt wissen, ich trüge nie andere, und wenn mir der Schah von Persien Diamanten groß wie Taubeneier in die Ohren stecken wollte. Denn diese meinen hat mir mein armes Mutterl geschenkt, als ich zur ersten Communion gegangen bin, das Einzige, was ich von Hause mitgenommen habe. , Uebrigens sollst du mir gar nichts Kostbares schenken, denn ich bin viel reicher als du. Da schau! – und sie lief zu einem alten Schrank an der Wand und nahm ein Blechkästchen heraus, das sie aufschloß, – schau, was für hübsche blanke Dingerln da bei einander liegen, alles Präsente von meinen Verehrern, aber wenn ich einem Einzigen anders dafür gedankt habe, als mit einem freundlichen Kopfnicken, will ich auf der Stelle so alt und krummbuckelig werden, wie meine Maruscha. Trag deine schönen Ohrringe nur wieder in den Laden zurück, wenn du kein Schwesterchen hast, dem du sie schenken kannst; für deinen guten Willen aber laß dich küssen. Ich weiß nicht, wie du’s anfängst, aber je länger ich dich anschau‘, desto mehr gefällst du mir.

Sie schlang ihm die Arme um den Hals und küßte ihn, heute weit süßer und feuriger als gestern Nacht, daß ihm der Kopf schwindelte vor übergroßem Glück. Als er sie aber gar nicht wieder aus seiner Umarmung entlassen wollte, machte sie sich kräftig los und sagte: Basta für diesmal! Wir dürfen unsere Zeit nicht mit solchen süßen Narrheiten vertändeln, ich hab‘ dir etwas sehr Wichtiges vorzutragen.

Dabei setzte sie sich auf seinen Schooß, so unbefangen wie ein Kind, strich ihm das dichte braune Haar aus der Stirn und sagte: Höre, wenn du mich so lieb hast wie ich dich, so mußt du mir einen großen Dienst leisten. Ich bin entschlossen, nicht länger bei der Gesellschaft auszuhalten. Man behandelt mich ja so weit nicht schlecht, und ich habe meinen Almansor – versteh, das Schulpferd – und auch die anderen Pferde so lieb, daß mir der Abschied schwer werden wird. Aber du weißt noch nicht – (sie sah düster in ihren Schooß) – da ist nämlich Jemand, der mich als sein Eigenthum betrachtet – ein wilder, gefährlicher Mensch, ein Vetter des Directors, der so riesenstark ist, daß er auf dem ausgestreckten Arm ein ausgewachsenes Pferd tragen kann – der gebärdet sich, als ob er mein Mann wäre, obwohl wir nie getraut worden sind. Wenn ich mich ihm widersetzen will, droht er, mich zu erwürgen, und da er rasend in mich verliebt ist, weiß der Himmel, was er noch einmal thut. Augenblicklich ist er nach Köln gereis’t, um dort Alles zu besprechen für unser Auftreten. Aber übermorgen soll er zurückkommen, und es überläuft mich kalt, wenn ich daran denke. Nun, Hans, mein Geliebter, da du ein freier Mann und ein Dichter bist, denn ich denke, alle Dichter sind vogelfrei – nun sollst du mich von hier entführen, gleichviel wohin. Wir verstecken uns in irgend einem heimlichen Nest, wo der Barbogio – so heißt der Wilde – uns nicht auffinden kann. An Geld fehlt mir’s nicht, ich nehme auch all meinen Schmuck mit – ja, wenn ich’s recht bedenke, wir könnten schon diese Nacht – wart‘, noch etwas! Ich will dir zeigen, daß ich ein kluges Schätzchen bin, das an Alles denkt.

Sie glitt von seinen Knieen herunter und huschte aus der Thür. Nicht lange, so trat ein junger Mann ins Zimmer in einem schmucken dunklen Anzug, ein Mäntelchen umgehängt, einen breiten Künstlerhut tief in die Stirn gedrückt. Guten Abend, Kamerad! tönte eine tiefe Stimme ihm entgegen. Wohnt hier Fräulein Irma, genannt Fee Delibab? Im nächsten Augenblick flogen Hut und Mantel in den Winkel, und das reizende Geschöpf schlang die Arme wieder um den nun vollends bezauberten Freund. Gelt, ich kann Komödie spielen? rief die Uebermüthige. Mit mir kannst du überall wagen, dich ehrbar sehen zu lassen, und wenn ich mich unter vier Augen wieder auf meine Mädchenschaft besinne, soll’s dein Schade nicht sein!

Du Einzige, Himmlische, süßeste Geliebte! rief er, ihre Küsse erwidernd, aber heute Nacht schon? Nein, das ist unmöglich. Ich habe morgen noch –

Ich weiß, was du sagen willst, unterbrach sie ihn. Du mußt dich von dem frechen Menschen erst noch ein bischen todtschießen lassen. Aber daraus wird nichts. Jetzt gehörst du mir, ich habe ältere Rechte auf dich, um ganze vierundzwanzig Stunden ältere. Hernach, wenn du deiner armen kleinen Irma überdrüssig geworden bist, dann ist immer noch Zeit genug, den »dummen Jungen« in deinem oder seinem Blut abzuwaschen. Heute aber und die nächste Zeit, so lang‘ es reicht, gehört jeder deiner Blutstropfen mir. Verstehst du? Hast du den Muth, das nicht ganz in der Ordnung zu finden?

*

Wieder war sie ihm auf die Kniee gesprungen und hatte den einen Arm um seinen Hals gelegt. Siehst du, sagte sie, auch der Himmel ist mit uns verschworen, es ist eine ganz sternlose Nacht. Wenn Mitternacht geschlagen hat, machen wir uns leise davon. Ich kann den Stall öffnen; da hole ich uns zwei der geringeren Pferde heraus, und wir reiten bis an die Morgendämmerung, denn mit der Eisenbahn wär’s gefährlich, da wissen sie gleich, wohin wir entwischt sind. Sobald es dann ohne Gefahr geschehen kann, schicken wir die Gäule zurück und reisen zu Fuß oder zu Schiffe weiter, vielleicht nach Belgien hinein, wo ich schon einmal gewesen bin. O die Welt ist weit, und zwei Liebesleute finden überall gutes Quartier, und bis mir wieder die Sehnsucht kommt, mich auf ein Pferd zu schwingen – aber horch, was war das?

Sie blickte nach dem Fenster, doch der Vorhang ließ sie nicht erkennen, was sich draußen regte. Im nächsten Augenblick aber wurde der leichte Riegel, der die beiden Flügel verschloß, von einer kräftigen Faust gesprengt, und ein riesenhafter Mann schwang sich mit einem lauten Fluch ins Zimmer herein.

Sie hatte nur eben Zeit, sich von dem Schooße des Jünglings herabgleiten zu lassen. An allen Gliedern zitternd, doch mehr vor Zorn über die Störung, als vor Schrecken, stand sie, ihren Geliebten mit ihrem Leibe deckend, vor dem Eingedrungenen. Hinaus! rief sie ihm zu und deutete mit dem ausgestreckten Arm nach der Thür. Was hast du hier zu suchen? Ich gehöre dir nicht an, ich bin frei und kann mir Freunde wählen, wie es mir beliebt!

Der ungeschlachte Geselle antwortete nicht sogleich, sondern betrachtete das Paar mit einem höhnischen Grinsen. Auch Hans war aufgesprungen; er konnte nicht zweifeln, wen er vor sich hatte. Zu anderer Zeit wäre ihm der Riese mehr spaßhaft als furchtbar erschienen. Denn mit dem schwarzen Bart, der fast bis an die Augen reichte, den vorgequollenen wasserblauen Augen und dem gewaltigen Munde, aus welchem zwei Reihen blanker Wolfszähne hervorglänzten, sah er aufs Haar einem Nußknacker ähnlich.

Der Hut war ihm rücklings vom Kopf gefallen, aus dem kurzgeschorene schwarze Borsten sich emporsträubten. So stand er eine Minute lang, die schweren Fäuste wiegend, wie zu einem Boxerkampf. Dann: Aus dem Weg, elende Dirne! knirschte er. Mit dir rechne ich hernach ab. Erst will ich diesem deinem erbärmlichen Milchbart einen Denkzettel geben, daß er das Wiederkommen für ewige Zeiten vergißt!

Er trat, einen Schritt näher und hob die Hand, um sie bei Seite zu schleudern. Sie aber hatte blitzschnell aus dem Knoten ihres dicken Haars einen langen, schmalen Dolch von spanischer Arbeit gerissen und hielt ihn dem Feinde entgegen. Rühre ihn nicht an! rief sie. Ich bin aufs Aeußerste gebracht, und wenn du ihm nur ein Haar krümmst –

Im nächsten Augenblick hatte der Wüthende ein Messer ergriffen, welches neben ihrem Teller lag – ein paar Secunden lang rangen die Beiden mit einander, Jedes bemüht, dem Andern die Waffe zu entreißen; plötzlich aber fuhr die breite, stumpfe Klinge des Mannes seiner verzweifelt kämpfenden Gegnerin in den Hals, ein heller Blutstrahl schoß heraus, und mit einem leisen Ach brach die junge Gestalt vornüber zusammen.

Auch der Jüngling, zu blinder Raserei gestachelt durch diesen Anblick, hatte nach einem Tischmesser gegriffen. Doch ehe er noch dem Feind damit zu Leibe rücken konnte, traf ihn selbst ein sicher gezielter Stoß in die linke Brust, und lautlos stürzte er neben dem hingestreckten Leibe seiner Geliebten zu Boden.

*

Der November war herangekommen, ein erster leichter Schnee rieselte vom dunklen Himmel, da schlug der junge Dichter in seinem stillen, warmen Zimmer, wo er drei Wochen im Wundfieber gelegen, zum ersten Mal mit leise aufglimmendem Bewußtsein die Augen wieder auf und blickte staunend um sich.

Guten Morgen, Hänschen! rief der Freund, der an seinem Bette stand. Endlich ausgeschlafen? Die Nacht war ein bischen lang, und manchmal dachte ich und wohl auch der Doctor, sie würde erst am jüngsten Tage ein Ende nehmen. Jetzt aber heißt’s fein stille bleiben und langsam sich wieder ans Wachen gewöhnen. Da trink von diesem kühlenden Tränkchen. Bis zum Rheinwein mußt du dich noch eine Weile gedulden.

Hab‘ ich denn das Alles nur geträumt? fragte der Jüngling mit schwacher Stimme. Nein, Lieber, du mußt mir Alles sagen. Ich falle sonst wieder in meine Fieberglut zurück. Ich bin stark genug – und wenn ich nicht weiß, was auf ihr geworden ist – ob auch sie sich wieder erholt –

Um sie brauchst du nicht zu sorgen, versetzte der Andere mit einem verhaltenen Seufzer. Es geht ihr vortrefflich, und bleibt ihr nichts zu wünschen. Euren Feind, den Mordgesellen, hat man freilich nicht fassen können, der hat das Weite gesucht, als die Alte, die Stoffhexe, weißt du, hereinstürzte und das holde Liebespaar in seinem Blute liegen sah. Ich kam zum Glück gerade an dem Hause vorbei, sah den Kerl aus dem Fenster springen, und wie ich neugierig herantrat, erschrak ich gewaltig, als ich die Teufelei, die er in dem Zimmer angerichtet hatte, überblickte. Ich habe dann dafür gesorgt, daß du gleich hiehergeschafft wurdest, das arme Liebchen überließ ich der Alten; ein paar Tage später ist die Gauklerbande still davongezogen, vermutlich haben sie ihre Fee Delibab mitgenommen, wenn ihr Name auch nicht mehr auf dem Programm stehen wird. Du siehst aber, lieber Sohn, in was für Mordgeschichten man sich verirrt, wenn man sich der Führung eines so weisen Pädagogen, wie ich bin, entzieht.

Der Kranke ließ das Haupt in das Kissen zurücksinken und lag eine Weile mit geschlossenen Augen. Diesen ganzen Tag versuchte er noch mehrmals, Genaueres von dem Freunde zu erfahren. Der aber verschanzte sich hinter den Befehl des Arztes, jedes aufregende Gespräch zu vermeiden.

Erst ein paar Tage später, als Hans zum ersten Mal das Schmerzenslager verlassen konnte, sagte Jener, ihn zu dem Tische führend, aus dem der alte Brocatfetzen ausgebreitet lag: Du wirst Augen machen, lieber Sohn! Denk, mit dem Taschentuch, das ich auf deine Wunde drückte, um das hervorstürzende Blut zu hemmen, habe ich hernach die Muster des alten Lumpens betupft. Ich erinnerte mich während der Nachtwache, daß die Stoffmuhme das Mittel empfohlen hatte, um die verschossenen Farben aufzufrischen. Nun schau, wie trefflich das Recept sich bewährt hat.

Der Jüngling starrte, beide Hände auf den Tisch gestützt, in tiefem Sinnen auf das alte Gewebe. Da erkannte er wirklich eine wundersame, süßtraurige Historie in wechselnden Bildern abgeschildert, von einem Liebespaar, das neben einander auf einem Ruhebett saß, ein Büchlein auf den Knieen des Jünglings, in welchem sie gelesen zu haben schienen. Aber ein reizvolleres Geschäft hatte ihre Wißbegierde unterbrochen, ihre Arme hatten sich umfangen und die Lippen, statt die geschriebenen Worte nachzusprechen, aus dem Stegreif allerlei süße Laute gestammelt, bis auch die verstummten. Und dann war ein wilder Geselle hereingestürmt und hatte die beiden Glücklichen in eine Welt geschickt, in der Niemand ihre zärtliche Zwiesprache mehr zu stören vermochte.

Deutlich sah der Dichter die Augen der jungen Frau glänzen und das Lächeln, mit dem sie ihren schönen, blühenden Mund dem Freunde bot. Wie ist mir denn? sagte er. Habe ich diese Geschichte nicht schon irgendwo gelesen und verstehe sie jetzt zum ersten Mal? Diese Dame ist lange nicht so schön wie eine Andere, die ich gut kenne, und wenn ich die nicht bald wiedersehe, werde ich nicht ganz genesen. Ich bitte dich, Phantasus, sage mir, wo sie hinverschwunden ist. Warum schweigst du? Du willst mir doch nicht das Gräßlichste verhehlen, daß sie –

Der Freund wandte sich ab. Als er sich wieder umkehrte, lag der kaum Genesene bewußtlos am Boden. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet, ein frischer Strahl war über den Tisch gespritzt.

*

Auch über diesen Rückfall hob ihn seine Jugendkraft hinweg.

Zu Anfang des März war er soweit erstarkt, daß er, auf den Arm des Freundes gestützt, langsam den Friedhof betreten konnte. Da standen sie lange vor einem Hügel, den ein einfacher Stein bedeckte, und die Augen des Jünglings hafteten fest auf dem Namen »Delibab«, der statt jeder anderen Inschrift in den Stein gemeißelt war, bis ein Schleier heißer Thränen ihm den Blick verdunkelte.

Als er von dieser ersten Ausfahrt wieder nach Hanse gekommen war, fing er sofort zu dichten an, ein seltsam trauriges und wonnevolles Spiel, das die Geschichte jenes alten Liebespaars da unten im welschen Land behandelte. Freund Phantasus stand ihm dabei mit gutem Rath zur Seite, und sie förderten das Werk so rasch, daß Hans es schon nach vier Wochen beendet hatte.

Er trug es, da die Tinte noch kaum trocken war, zu dem alten Professor hin, der es sogleich zu lesen versprach. Als der schüchterne junge Poet sich wieder meldete, wurde er aufs Freundlichste empfangen. Ihr Trauerspiel ist noch kein Meisterwerk, junger Freund, sagte der alte Kenner. Aber wie weit ist die Kluft zwischen Ihren früheren poetischen Exercitien und dieser Arbeit! Hier ist Leben und Wahrheit. Und wenn Sie noch zuweilen sich ungeschickt anstellen, so ist’s – verzeihen Sie den Vergleich – wie der unbeholfene Lauf eines jungen Neufundländers; die Rasse ist edel. Und dann mit einem seinen Blick in das noch immer bleiche Gesicht des Jünglings, von dessen Abenteuer er wohl gehört haben mochte – man sieht es jeder Zeile dieser Dichtung an, daß sie mit Ihrem Herzblut geschrieben ist.

Buchschmuck

Paul Heyse (1830-1914)

Autor: Werner Philipps

Mein Leben und ich! So könnte man den Inhalt meines Blogs kurz und knapp überschreiben. Er beinhaltet (ich hoffe in der richtigen Balance!) Episoden und Ereignisse aus meinem Leben (sic!), Humor und Gedichte... Lasst Euch einfach mal überraschen. Über Kommentare zu den einzelnen Artikeln freue ich mich natürlich auch sehr und meistens antworte ich sogar! Ich freue mich sehr über Euren Besuch. Herzlichst, Werner Philipps

Mein Senftöpfchen wartet auf neue Nahrung. ;) Also, gib gerne Deinen Senf dazu!

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