Weisheit des Tages | 16.07.2021

Bei Vorbildern ist es unwichtig, ob es sich dabei um einen großen toten Dichter, um Mahatma Gandhi oder um Onkel Fritz aus Braunschweig handelt, wenn es nur ein Mensch ist, der im gegebenen Augenblick ohne Wimpernzucken gesagt oder getan hat, wovor wir zögern.

Erich Kästner

Zur Blauen Stunde | Das Mandelbäumchen

Ich bin noch klein und hab erst zwölf Blütchen.
Auf meinem Schildchen steht „Prunus triloba“.
Ich bin nicht so groß wie die gelben Forsythien.
Dafür bin ich rosa.

Ich bin noch klein und ganz ohne Füßchen.
Und wüsste so gern, wie das Tanzen tut !
Überbringen Sie, bitte, die schönsten Grüßchen
den Gänseblümchen und den Radieschen!
Und es ginge mir gut.

Erich Kästner (1899-1974

Zur Blauen Stunde | Abendlied des Kammervirtuosen

Abendlied des Kammervirtuosen

Du meine neunte letzte Sinfonie!
Wenn du das Hemd anhast mit rosa Streifen…
Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,
Und lass mich zart in deine Seiten greifen.

Laß mich in deinen Partituren blättern.
(Sie sind voll Händel, Graun und Tremolo) –
Ich möchte dich in alle Winde schmettern,
Du meiner Sehnsucht dreigestrichnes Oh!

Komm lass uns durch Oktavengänge schreiten!
(Das Furioso, bitte, noch einmal!)
Darf ich dich mit der linken Hand begleiten?
Doch beim Crescendo etwas mehr Pedal!!

Oh deine Klangfigur! Oh die Akkorde!
Und der Synkopen rhythmischer Kontrast!
Nun senkst du deine Lider ohne Worte…
Sag einen Ton, falls du noch Töne hast!

Erich Kästner (1899-1974

Zur Blauen Stunde | Apropos, Einsamkeit!

Man kann mitunter scheußlich einsam sein!
Da hilft es nichts, den Kragen hochzuschlagen
und vor Geschäften zu sich selbst zu sagen:
Der Hut da drin ist hübsch, nur etwas klein …

Da hilft es nichts, in ein Café zu gehn
und aufzupassen, wie die andren lachen.
da hilft es nichts, ihr Lachen nachzumachen.
Es hilft auch nicht, gleich wieder aufzustehn.

Da schaut man seinen eignen Schatten an.
Der springt und eilt, um sich nicht zu verspäten,
und Leute kommen, die ihn kühl zertreten.
Da hilft es nichts, wenn man nicht weinen kann.

Da hilft es nichts, mit sich nach Haus zu fliehn
und, falls man Brom zu Haus hat, Brom zu nehmen.
Da nützt es nichts, sich vor sich selbst zu schämen
und die Gardinen hastig vorzuziehn.

Da spürt man, wie es wäre: Klein zu sein.
So klein, wie nagelneue Kinder sind!
Dann schließt man beide Augen und wird blind.
Und liegt allein.

Weisheit des Tages | 04.02.2021

Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf.

Erich Kästner